Wikinger: Pioniere in einer unwirtlichen Welt
Um das Jahr 985 waren die ersten Siedler von Island nach Grönland aufgebrochen, doch selbst zur Glanzzeit lebten auf der riesigen Insel nur etwa 3000 Menschen. Während die Isländer allen Herausforderungen bis in die heutige Zeit widerstanden, verfielen Grönlands Siedlungen im 15. Jahrhundert. Eine Übernutzung der beschränkten natürlichen Ressourcen sei der Grund gewesen, lautet eine gängige Theorie. Bedrängt von wachsenden Inlandgletschern und Meereis habe man in der Kleinen Eiszeit aufgeben müssen, ist eine zweite. In den letzten Jahren mehren sich aber die Indizien für eine weit komplexere Erklärung.
Am Anfang, so erzählen es isländische Sagas, standen Gewalt und Tod. Thorvald Asvaldsson, ein norwegischer Großbauer, und sein Sohn Erik wurden des Totschlags beschuldigt und nach Island verbannt. Doch Erik blieb jähzornig und gewaltbereit. Nicht allein seine Haarfarbe, sondern auch das Blut an seinen Händen soll ihm den Beinamen »der Rote« eingebracht haben. Im Streit tötete er erneut, und die Versammlung der freien Männer, das Thing, verurteilte ihn zu drei Jahren Verbannung. Da die Sippen seiner Opfer auf Blutrache sannen, rüstete Erik ein Schiff aus und folgte früheren Berichten über eine unbekannte Insel, die abseits der üblichen Route nach Norwegen liegen sollte.
»Grünes Land« – ein Marketingtrick
Mit einer Hand voll Männer erreichte er das Ziel und ließ sich in einem geschützten Fjord nieder. Drei Jahre später kehrte er nach Island zurück und warb erfolgreich für das »grüne Land«: Mit einer Flotte von 25 Langschiffen brach er wieder auf, von denen allerdings nur 14 ankamen.
Als Motivation der Aussiedler vermuteten Historiker und Sozialwissenschaftler die Suche nach fruchtbarem Ackerboden und guten Weideflächen. Eine solche »Landnam« hatte Norweger zwischen 850 und 875 nach Island und auf die Färöer-Inseln geführt. Falls dies tatsächlich der Hauptgrund gewesen war, verdarb der Anblick der eisigen Felsküsten den Pionieren wohl erst einmal die Stimmung: Erik hatte sie mit einem Marketingtrick in eine Region gelockt, die noch stärker von arktischen Bedingungen geprägt war als Island.
Doch Anführer genossen in altskandinavischen Gemeinschaften eine besondere Machtfülle. Experten vermuten, dass ihre herausragende Stellung – neben Fortschritten in der Schiffstechnik und Seenavigation – die Expansion der Norweger im so genannten Wikingerzeitalter erst möglich gemacht hat. Diese Ära dauerte etwa von 800 bis 1066; die zeitlichen Grenzen variieren je nach Forschungsansatz. Manche Historiker beschränken den Begriff Wikinger zudem auf räuberische Gruppen, während sie von Kolonisten allgemeiner als Nordmännern sprechen.
Forscher verschiedener Fachrichtungen versuchen seit einigen Jahren, die Entwicklung beider Kolonien zu rekonstruieren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der drängenden Frage an unsere Zeit: Wie gelingt es Gemeinschaften, dramatische Veränderungen zu bewältigen?
Strontiumisotopen-Analysen bestätigen die Herkunft der Siedler: Die Isländer stammen aus Skandinavien und von den nördlichen und westlichen Britischen Inseln, die ersten Grönländer wiederum von Island. Archäologen ermitteln Siedlungsmuster; Archäobotaniker zeichnen anhand von Pollenresten in Seesedimenten die Zusammensetzung der Vegetation in den verschiedenen Phasen der Kolonien nach; Archäozoologen untersuchen Tierknochen aus dem Abfall der Siedlungen; und Klimahistoriker durchforsten isländische Sagas und andere Überlieferungen nach Hinweisen auf eine Zunahme von Meereis.
Auf beiden Inseln zeigte sich anfangs das skandinavische Erbe: Die Bauern starteten die Viehzucht mit Rindern und Schafen sowie Schweinen und Ziegen. In vorchristlichen Gräbern Islands kamen auch Knochen von Pferden, Hunden und Katzen zu Tage. Vermutlich waren diese Tiere Teil heidnischer Rituale.
Von Beginn an ergänzte die Jagd, was auf den Tisch kam. Fische und Meeressäuger standen auf der Speisekarte, auf Island zudem Eier der an Inlandseen brütenden Wasservögel, auf Grönland Karibus. Die Skandinavier waren es aus ihrer Heimat gewohnt, die kargen Ressourcen flexibel zu nutzen. Dabei bewiesen die Isländer als Eiersammler Vorausschau. Bei Grabungen um den See Myvatn im Nordosten der Insel entdeckten die Archäozoologen zwar Schalen, jedoch kaum Vogelknochen. Offenbar hatten die Siedler gelernt, diese Nahrungsquelle nachhaltig zu nutzen. Hingegen dezimierten sie mit der Zeit die Bestände an standorttreuen Robbenarten. Hier waren die Grönländer im Vorteil: Manche Fjorde wurden saisonal von so vielen Exemplaren anderer Robbenarten aufgesucht, dass diese Ressource kaum auszuschöpfen war.
Auch die Siedlungsmuster spiegelten die Verhältnisse in der Heimat wider. Wer etwas zu sagen hatte, sicherte sich den größten Grundbesitz; kleinere Gehöfte verteilten sich im Umfeld. Es gab zudem eine zeitliche Strukturierung. Wer zuerst kam, baute küstennah und auf fruchtbarem Boden. Späteren Migranten blieben die kargeren Randgebiete. Wie auch immer sich die Gesellschaft im Detail formte, es gab Groß- und Kleinbauern wie in Skandinavien.
Gleichwohl zeigen sich große Unterschiede zur Heimat. Auf Grund des polaren Klimas lag ein Großteil Grönlands unter Gletschern verborgen, und auch vom Meer drohte Eis. Der Vegetation standen bloß wenige Monate im Jahr zur Verfügung, um sich zu entfalten, weshalb nur in wenigen geschützten Tälern im Landesinnern Bäume wuchsen. Anders in Island, wo die Ankömmlinge Birkenwälder vorfanden, ein Ergebnis des warmen Irmingerstroms, eines Zweigs des Golfstroms. Wann immer aber Meereis in großem Umfang bis in Küstennähe kam, folgten ein Temperaturrückgang und Einbrüche der landwirtschaftlichen Produktivität.
Dementsprechend lebten Anfang des 12. Jahrhunderts 50 000 bis 60 000 Menschen auf Island, die sich über die ganze Insel verteilten. Auf Grönland hingegen waren es nie mehr als die genannten 3000, die vor allem an der Westküste in den von Forschern als West- und Ostsiedlung bezeichneten Gebieten und der näheren Umgebung wohnten.
Steine, Gras und Sträucher
Siedlungsruinen, die Archäologen in Vatnahverfi an Grönlands Südspitze entdeckten, vermitteln ein Bild vom Leben in diesen Kolonien. Vatnahverfi war wohl eines der reicheren Gebiete der Ostsiedlung. Wie Finger ragen die Halbinseln dieser Gegend in die See hinein. Hinter schmalen, steinigen Stränden bedeckt Gras den Boden, auf dem heute noch Schafe weiden. Vor allem aber prägen Sträucher die Landschaft, die sich daher vor allem zur Haltung der anspruchsloseren Ziegen eignete. Seit der Wikingerzeit hat sich das kaum geändert.
Von den alten Gebäuden sind lediglich die moosbewachsenen Grundmauern erhalten. Die Anordnung der Häuser und Wirtschaftsgebäude gleicht jener in Skandinavien und Island zu dieser Zeit: ein Hauptgebäude mitten im besten Weideland, auf den Wiesen darum herum kleinere Gebäude, in denen man ebenfalls wohnte und arbeitete. Bei ihren Ausgrabungen in Vatnahverfi stießen Konrad Smiarowski vom New Yorker Hunter College und Christian Koch Madsen vom Greenland National Museum & Archives auf 8 Haupt- und 47 kleinere Gehöfte. Dazu kamen 86 Hütten, die als Unterstände für Tiere und als einfache Wirtschaftsgebäude dienten, also um Schafe zu scheren und Kühe sowie Ziegen zu melken. Insgesamt lebten in Vatnahverfi wohl zwischen 250 und 530 Menschen.
In den letzten Jahren erforschten Koch Madsen und andere Archäologen Fjorde südlich davon. Bisher galten von den Konzentrationsgebieten entfernte Siedlungen als klein und unbedeutend, doch hier stießen die Forscher auf Belege großer landwirtschaftlicher Betriebe. Vermutlich hielt man dort Schafe, Ziegen und wohl einige Kühe, jagte aber auch Meeressäuger. Möglicherweise waren diese Siedlungen sogar darauf spezialisiert, deren Fleisch sowie Treibholz an die Hauptsiedlungen zu liefern.
Die Organisation der Höfe spiegelt die genannte Hierarchie wider, meint Thomas McGovern, ebenfalls vom Hunter College. Der Archäologe erforscht seit den 1970er Jahren Fundplätze auf Grönland und in anderen nordatlantischen Gegenden. Eine nach Rang gegliederte Elite von Landbesitzern ließ Neuankömmlinge auf ihren Gütern leben und gewährte ihren Herden Zugang zu den Weidegründen, erklärt Jette Arneborg vom Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen. Im Gegenzug erhielten sie einen Anteil an den Erträgen. Diese Struktur galt auch für die Jagd: Wer Robben erbeuten wollte, musste sich mit den Eigentümern der Küstenstriche arrangieren.
Schon in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft passten die Grönländer ihre Wirtschaftsweise an die neue Umgebung an. Die kurze Vegetationszeit beschränkte die Menge an Heu und anderem Viehfutter. Je nach Winter mussten Rinder aber neun Monate im Stall versorgt werden. Daher gaben vor allem die Besitzer kleinerer Gehöfte deren Zucht zu Gunsten der Haltung von Schafen und gelegentlich Ziegen auf, die länger auf den Weiden bleiben konnten. Milch und Rindfleisch wurden Luxusgüter der Oberschicht.
Außerdem verlor Meeresfisch an Bedeutung, wie archäologische Grabungen verraten. Diesen überraschenden Befund erklärten die Archäozoologin Ramona Harrison vom Hunter College und ihre Kollegen 2014 in einer Publikation unter anderem durch die polaren Bedingungen: In Norwegen und auf Island fuhr man im Winter zum Fischen hinaus, wenn die Landwirtschaft dafür mehr Zeit ließ. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt trocknete der Fang an der Luft zu Stockfisch, einer lange haltbaren Eiweißquelle. Auf Grönland aber war es im Winter schlicht zu kalt für diesen Prozess, während die Robbenjagd gerade jetzt reiche Beute versprach.
Die Grönländer kannten sie bereits aus dem Baltikum und aus Island. Es gelang ihnen, ihre Techniken an die Bedingungen Grönlands anzupassen. Wahrscheinlich trieb man die Tiere im offenen Gewässer der Fjorde mit Booten und Netzen zusammen, um sie dann mit Speeren zu erlegen. Das war eine Gemeinschaftsaufgabe und erforderte eine gute Koordination durch einen Anführer – entsprechend der skandinavischen Gesellschaftsordnung.
Ebenfalls noch auf Island hatten die Auswanderer das Jagen von Walrossen erlernt. Und diesem Beutetier messen Forscher heutzutage einen immer größeren Stellenwert zu, wenn sie nach Antworten auf die Frage suchen: warum ausgerechnet Grönland?
Möglicherweise motivierte nicht die Suche nach Weide- und Ackerland, Erik dem Roten in die Arktis zu folgen, sondern die Aussicht auf eine lukrative Jagdbeute. Denn jedes erwachsene Walross, auch ein Weibchen, trägt zu Hauern verlängerte Eckzähne. Diese zeigen den Rang eines Tiers an, dienen der Verteidigung, brechen Atemlöcher ins Eis – und bestehen aus Elfenbein.
Das weiße Gold der Arktis
Das Material wurde in ganz Nordeuropa und auf den Britischen Inseln zu kunstvollen Schnitzereien verarbeitet. Etwa zu dem auf der Hebrideninsel Isle of Lewis entdeckten Schachspiel aus 78 Figuren, das vermutlich norwegische Handwerker im 12. Jahrhundert schufen. Inzwischen sehen viele Forscher im Elfenbein den Hauptgrund für die Kolonisierung Grönlands und auch Islands. Denn dort stießen Archäologen schon in den ältesten Siedlungsschichten auf Überreste von Walrossunterkiefern, was bereits für eine ausgereifte Technik der Gewinnung spricht: Statt die Hauer eines getöteten Tiers abzusägen, wartete man einige Wochen, bis sich das Weichteilgewebe zersetzt hatte, und legte dann die Wurzel des Stoßzahns im Kiefer frei.
Vermutlich etliche tausend Tiere lebten in der Diskobucht an Grönlands Westküste, die von den Wikingern wohl »Nordursetur« genannt wurde, nördliches Jagdgebiet. Doch diese Region lag bis zu 800 Kilometer von den beiden Hauptsiedlungen entfernt. War die Robbenjagd bereits ein gemeinschaftliches Unternehmen, für das die Großbauern Boote stellten, galt das für das Erbeuten von Elfenbein umso mehr. Schließlich waren die Jäger einige Tage zu jener Bucht unterwegs, und danach mussten die abgetrennten Köpfe der erlegten Tiere zu den Siedlungen befördert werden. Auch die Felle der Tiere waren begehrt, weil sich daraus sehr belastbare Seile für die Seefahrt herstellen ließen. Weil die Grönländer laut Jette Arneborg unbedingt ein Handelsprodukt benötigten, um überlebenswichtige Güter zu importieren, war die Walrossjagd vielleicht neben den polaren Bedingungen ein weiterer Grund, die Stockfischproduktion im Winter weitgehend aufzugeben: Im Sommer wurden alle verfügbaren Boote und Männer für die Walrossjagd in der Diskobucht benötigt.
Dass sie auch der Grund für die Kolonisierung war, ist plausibel, doch nicht unumstritten. Forschern des Osloer Centre for Ecological and Evolutionary Synthesis und des McDonald Institute for Archaeological Research in Cambridge (England) gelang es 2018, Walrosspopulationen der Westküste Grönlands von solchen der Barentssee genetisch zu unterscheiden (auch Russland war eine Quelle für dieses Elfenbein). Ein Vergleich mit sieben in Europa gefundenen Elfenbeinobjekten aus der Zeit vor 1120 bestätigte nur in einem Fall die Herkunft von den nordatlantischen Jagdgefilden. Das macht eine besondere Bedeutung Grönlands während seiner frühen Kolonisierungsphase nach Ansicht der Osloer Forscher zumindest diskussionswürdig.
Für die spätere Zeit bis 1400 hingegen sieht es anders aus: Zehn von zwölf Artefakten aus Walrosszahn stammen von Grönland – der Handel mit Europa wurde intensiver. Das spiegeln auch die Überlieferungen. Diesen zufolge versprachen die Siedler dem norwegischen König Haakon IV. (1204 – 1263) die Kontrolle über den Elfenbeinhandel und Steuern, sofern er sicherstellte, dass ein Frachter sie alljährlich mit allem Notwendigen versorgte. Ein Jahr später folgte Island dem Vorbild. Durch diese regelmäßigen Handelskontakte waren beide Kolonien in den europäischen Wirtschafts- und Kulturraum eingebunden.
Während einfache Jäger und Feldarbeiter sicherlich Not hatten, satt zu werden, profitierten wohlhabende Landbesitzer von der Entwicklung. Schon im vorchristlichen Norwegen war es Aufgabe und Privileg der Eliten gewesen, Kultstätten zu errichten. Im vermutlich von Anfang an christlichen Grönland waren das Kirchen, deren Bau die gesellschaftliche Stellung der Anführer untermauerte. Denn die Bauernhöfe lagen weit verstreut, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigte. Man traf sich aber zur Messe in den Gotteshäusern, vermählte dort junge Paare und übergab die Verstorbenen der Fürsorge Gottes. Kurz: Kirchen waren Kristallisationspunkte für das Miteinander. Dementsprechend kennzeichnen die Ruinen von Gotteshäusern vermutlich die Landgüter der bedeutendsten Grönländer. Weitläufige Güter ohne Kirchen gehörten untergeordneten Großbauern, dazu kam eine Vielzahl mittlerer und kleinerer Gehöfte der abhängigen Landwirte.
1123 schickte der norwegische König den Priester Arnald als ersten Bischof nach Grönland. Das hatte möglicherweise auch wirtschaftliche Gründe: Der Papst liebte Verzierungen aus Elfenbein. Mikkel Sörensen, Experte für Geschichte und Archäologie der Grönland-Inuit an der Universität Kopenhagen, vermutet, dass es dem jeweiligen Amtsinhaber oblag, die Versorgung damit zu gewährleisten. Arneborg hingegen nimmt an, dass die Kirche mehr an den Handelserlösen interessiert war als an der Ware selbst. Letztlich aber kontrollierten Norwegens Herrscher die wichtige Elfenbeinquelle. Die Nachfrage stieg, wie Werkstattabfälle von Walrosszähnen aus mittelalterlichen Fundstellen in Skandinavien, Irland und Deutschland belegen.
Der Anfang vom Ende
Doch das Wirtschaftswachstum hielt nicht lange an. Als der indonesische Vulkan Samalas 1257 ausbrach, schleuderte er so große Mengen an Partikeln in die Atmosphäre, dass sich die Sonneneinstrahlung deutlich verringerte. In arktischen Regionen sank die Temperatur weiter. Gut ein Jahrzehnt lang machten wohl heftige Unwetter und Meereis die Schiffspassage zwischen Island und Grönland riskanter.
Obwohl die Wikingersiedlungen auf Grönland noch rund 200 Jahre weiterbestanden, galt die Klimaverschlechterung vielen Wissenschaftlern als Anfang vom Ende. Nicht willens oder nicht fähig, sich den neuen Bedingungen anzupassen, hätten die Siedler schließlich aufgegeben. Thomas McGovern wendet dagegen ein: »Bis 1250 sind die Grönländer immer wieder erfolgreich durch schlechte Zeiten gegangen.« Die bis dahin zielführenden Strategien der Anpassung wurden intensiviert: Knochen aus Abfallgruben des Hochmittelalters zufolge leisteten sich nur noch die Wohlhabendsten Milchkühe, alle anderen Viehzüchter verlegten sich auf Schafe und Ziegen. Offenbar wurden entlegene und kleine Gehöfte aufgegeben, denn Ställe und Weidemauern verfielen. Die Weiden selbst blieben ungenutzt, wie Pollen von Wiesenpflanzen in den Sedimenten naher Seen vermuten lassen. Manch ein kleinerer Bauer mag noch als Pächter bei einem größeren oder gar als Knecht oder Sklave sein Auskommen gefunden haben. Vor allem aber intensivierten Isländer und Grönländer die Robbenjagd als Proteinlieferant.
Der Blick nach Island zeigt, dass man dort weit weniger unter der Klimaverschlechterung zu leiden hatte. Eine Gegenmaßnahme war die Ausweitung des Außenhandels. Dazu gehörte die Stockfischproduktion: Die Menge von Fischköpfen in den Müllhalden ließ sich durch die Nahrungsversorgung allein nicht erklären. Zudem verlegten einige größere Landbesitzer ihren Wohnsitz in Fischereigebiete, vermutlich um dieses Geschäft besser kontrollieren zu können. Eine zweite auf den Export ausgerichtete Maßnahme war zunehmende Schafhaltung. Weil vor allem Knochen älterer Tiere zu Tage kommen, gehen Experten von einer intensivierten Wollproduktion aus – was hätte den Bedarf Nordeuropas in dieser Zeit besser getroffen?
Die Grönländer aber handelten weiterhin mit Walrosselfenbein, wie die konstant hohe Zahl von Unterkiefern belegt. Mochte die Kaltzeit den Warentransport auch erschweren, half dieser Exportschlager zumindest noch durch die harten Jahre bis 1300. Der Ausbruch der Pest auf dem Kontinent brachte das Wirtschaftsmodell jedoch in Schieflage. Zwischen 1346 und 1353 fiel fast ein Drittel der Europäer dem Schwarzen Tod zum Opfer. Norwegen war besonders schwer betroffen, dort starben fast 60 Prozent der Bevölkerung. Deshalb stachen nach 1369 keine Schiffe mehr von dort in Richtung Arktis in See.
Zu allem Unglück sollte sich die Einbindung in einen europaweiten Handel mit Luxusgütern nun auch als Nachteil erweisen. Tatsächlich waren Walrosszähne nur deshalb so gefragt gewesen, weil Elefantenelfenbein aus Afrika oder Asien die Großhändler weit teurer kam. Denn als eine Begleiterscheinung der Kreuzzüge hatte die Piraterie im östlichen Mittelmeer überhandgenommen. Doch Ende des 14. Jahrhunderts flauten die Konflikte zwischen Christen und Muslimen ab, zwei Kreuzzüge richteten sich sogar explizit gegen Piraten. Als die alten Handelsrouten wieder offen waren, schwand das Interesse an grönländischem Elfenbein, erklärt der dänische Mittelalterarchäologe Sören Sindbaek von der Universität Aarhus.
Fisch und Wolle für den Krieg
Zudem veränderten sich die Märkte. Während Großkaufleute früher mit wertvollen Gütern wie Gold, Pelzen und Elfenbein ihr Geld machten, vertrieben sie nun vorwiegend Massenprodukte und geringwertige Waren wie Stockfisch und Wolle aus Island. »Walrosselfenbein ist nur dann wertvoll, wenn die Leute sagen, dass es das ist«, erklärt McGovern. »Mit Fisch und Wolle hingegen kann man Armeen ernähren und kleiden.« Und in einem von Machtkämpfen und Kriegen zwischen sich herausbildenden Staaten zerrissenen Europa kam dem Unterhalt von Söldnern immer größeres Gewicht zu. Diesen grundlegenden Wandel vermochten die Grönländer nicht mitzugehen, konstatiert McGovern. »Sie steckten in den alten Wirtschaftsstrukturen fest, produzierten qualitativ Hochwertiges in kleiner Stückzahl, während es die Isländer verstanden, eine steigende Nachfrage nach Massengütern zu befriedigen.«
Als genüge das noch nicht, sahen sich die Nordmänner Grönlands seit dem 13. Jahrhundert von Eindringlingen aus dem Norden bedroht. Zu jener Zeit, als Erik der Rote auf Grönland seine Siedlung errichtete, schien das Land gänzlich unbewohnt. Es mag zwar sein, dass eine Volksgruppe, die man Paläoeskimos oder Late-Dorset-Leute nennt, schon auf der Insel lebte, dann aber weit im Norden. Später jedoch fuhren Inuit der so genannten Thule-Kultur in ihren »umiat« – Booten aus Tierhäuten – die Küste entlang, um Wale zu jagen, und gelangten schließlich zur Diskobucht. Ein Text aus dem 14. Jahrhundert legt nahe, dass die Nordmänner ihnen nicht friedlich begegneten. Offenbar zogen sie dabei aber den Kürzeren: Gegen Ende des 14. Jahrhunderts gaben sie die westliche Kolonie auf.
Klimatische, politische und wirtschaftliche Veränderungen, Pest und Invasoren bildeten einen ganzen Komplex von Problemen, der die Nordmänner schließlich überforderte. Reiche Landbesitzer versuchten es mit dem »Weiter wie bisher« und bauten ihre Kirchen aus. Doch als ein weiterer Klimaschock die Region 1425 heimsuchte, bedeutete er tatsächlich das Ende: Um 1450 wurde die Kolonie aufgegeben.
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